Wie glücklich darf „Die Zeit“ sich schätzen? Kaum einer mäkelt ihr am Inhalt rum. „Viel zu unhandlich“, heißt es da: „viel zu großes Format“. Es ist daher auch ein großer Irrtum, die Zeit für eine Intellektuellenzeitung zu halten, sie ist das Blatt der Poser! Still und versunken liest man vor sich hin, plötzlich ist der Artikel zu Ende. Was nun? Auffalten, umblättern, auf handliches Format zurückfalten! Mit etwas Übung funktioniert dies sogar an der windigen Bushaltestelle oder im vollbesetzten Bus. Und alle glotzen einen an, ob ich das auch wirklich schaffe. Ihr Arschgeigen, ihr seid nicht nur zu doof, diese Zeitung zu verstehen, sondern auch zu doof, sie anständig zu falten. So.

Screenshot vom E-Paper der Zeit
Was hängt im Kinderzimmer der Gymnasiastin an der Wand? Kein Bravoposter, die Zeit!

Nunja, ein eher unglücklicher Umstand hat mich nun gezwungen, die Zeit als E-Paper zu lesen. Boah, die ist wirklich viel zu groß. Auf meinen Bildschirm (17″, 1280×1024) passt die jedenfalls nicht drauf. Beginne ich links oben zu lesen, fehlt rechts ein Stück. Und unten natürlich. Aber anstatt weniger zu lesen und nur so über die Seiten zu fliegen, fühle ich mich wie meine Oma, die mit gekrümmten Rücken und der Lupe in der Hand ihre Tageszeitung studiert. Bloß nichts verpassen.

Da wird jede Zeile, jede Ecke abgefahren. Und auch die Werbung. Ich glaube, ich habe noch nie soviel Werbung von der Zeit mitbekommen wie im E-Paper. Es könnte ja hinter der Anzeige noch eine neue Drei-Satz-Kolumne vom Martenstein stehen. Auf dem Rand vielleicht. Bloß nichts verpassen! Und noch schlimmer: Ich habe mich nicht getraut, auf die Werbung zu ‚klicken‘. Navigiert habe ich im PDF mit dieser komischen Schieb-das-Blatt-über-den-Tisch-Hand, also mit dem Mauszeiger, und ich habe tatsächlich auf das eine oder andere Popup gewartet. Nur einmal im Anzeigeteil hat der ungewollte Klick auf einen Link im Browser ein Fenster geöffnet.

Das PDF auf Seitenbreite einzustellen brächte zwar mehr Übersicht, aber definitiv auch Augenkrebs. Übersicht, auch so ein Zeit-Phänomen. Etwas naive, nicht-zeitlesende Mitmenschen fragen einen manchmal, wie man das alles lesen könne. Kann man nicht. Muss man auch nicht. Jeder hat da so seinen eigenen Jetzt-ist-aber-genug-mit-diesem-Artikel-Index. Man fängt an zu lesen, lässt sich von den schönen Worten einlullen und schreckt plötzlich auf: Hey, was machst du hier eigentlich? Zeit verschwenden? Musst du das wirklich wissen? Interessiert dich das überhaupt? Schaffst du das überhaupt noch bis zur Mittagspause? Junge, schau mal auf die Uhr.

In diesem Moment werfen die Augen einen kühnen Blick auf die noch zurückzulegende Strecke bis zum Artikelende, einen zweiten auf die restlichen Artikel im Buch und einen dritten auf die Dicke der übrig gebliebenen Zeit. Gewievte Statistiker würden bestimmt herausfinden können, dass der Durchschnittszeitleser einen überdurchschnittlich langen Zeitartikel nach durchschnittlich 68 Prozent abbricht. Er weiß eh schon längst mehr als der SZ-lesende Kollege mit dem rosa Polohemd. Wer weiß, wozu die Zeit kurz vor Artikelende alles schon aufgerufen hat, ohne dass wir es mitbekommen haben? Vielleicht hätte sich so die Erderwärmung umgehen lassen? Oder der Pillenknick? Mit dem E-Paper geht das alles nicht mehr. Da muss man Artikel bis zum bitteren Ende lesen, alle dienstlichen Freizeitaktivitäten bis auf weiteres einstellen und sich – wohl oder übel – auch wieder anständig benehmen. Auch keine bessere Welt.

Also liebe Kinder, wenn ihr wieder einmal versuchen solltet, mir einen Teil meiner Zeit zu klauen, der Onkel auf dem Balkon mit dem Blumentopf in der Hand, das bin ich. Und liebe Zeit, stellt doch bitte diese Plakatwandwerbung mit dem nackten Mann ein, das verdirbt doch nur die Kinder (siehe oben). Und ich bekomme einen krummen Rücken. Vom vielen vor dem Monitor sitzen. Die Zeit sollte man auf dem Sofa genießen. Oder im Liegestuhl auf dem Balkon. Oder in der vollbesetzten Bahn.