In den letzten fast fünfzehn Jahren habe ich vielleicht ein oder zwei Ausgaben der Wochenzeitung Die Zeit verpasst. Das ist eine lange Zeit und zeugt von einer großen Liebe. Nur wenige können das nachfühlen. Fragt man diese jedoch, was sich in die Erinnerung gebrannt hat, dann wird eine Antwort immer wieder fallen: Die Abschaffung der Linien, Gestaltung durch Weißraum. 2008 sind die Linien zurück.
Als ich in die zehnte Klasse ging, lehrte Doktor Hohmann im Geschichtsunterricht, dass Frauen Zeitungen immer von hinten beginnen zu lesen: „Sie wissen schon, da stehen zuerst die Todesanzeigen.“ Eine Zote. Dennoch habe ich gelernt: Man muss nicht vorne anfangen. Eine Zeitung zu lesen, ist kein Pflicht, sondern ein Vergnügen. Lange verschlang ich zuerst das Moderne Leben. Das Moderne Leben!
Schaut euch nur die Seitenzahl an. Macht man das heute so? Muss Die Zeit das so machen?
In diesem Schuljahr unterrichtete Hubertus Vogt Politik. Marx, Lenin, DDR. Damit wir wussten, womit wir es zu tun hatten. Ein westdeutscher Lehrplan der Vorwendezeit. Immer wieder brachte er Zeitungsausschnitte mit. Oft waren es Artikel aus der Zeit. Eines Tages sagte auch er einen solchen Satz. Sinngemäß: Wenn ihr wissen wollt, was in der Welt passiert, lest Die Zeit. Meine Eltern teilten sich mit dem Nachbarn das Westfälische Volksblatt.
Einige Wochen lang kaufte ich mir Die Zeit und legte sie auf einen Stapel. Ich war einfach noch nicht reif dafür. Aber ein paar Jahre später traf ich Herrn Vogt mit einer Schulklasse im Zug. Sie kamen gerade aus Weimar. Ich hätte gerade Die Zeit abonniert und erinnerte ihn an seine Empfehlung. „Schade, da gab es gerade eine gute Prämie.“ Dann stieg er aus.
Als ich heute mittag das Buch Chancen aufschlug, nun ja, die Seiten überfliege ich meist, um zu den Zeitläuften zu gelangen und mich dort zu vertiefen, da realisierte ich nur sehr langsam, dass etwas anders war. Die Typografie. Da waren andere Schriften. Solche Momente können begeistern: Keine Linien! Weißraum! Doch wenn das Vertraute dem Befremden weicht, dann kann die Liebe auch knacken, als wäre sie ein Gebälk.
Auf Seite 1 schreibt endlich Giovanni di Lorenzo, als Chefredakteur offensichtlich ein echt coole Sau, die es nicht nötig hat, regelmäßig im eigenen Blatt zu schreiben. Weniger ist da mehr. Wobei er im Fernsehen (er moderiert die Talkshow drei nach neun) beim Vortrag seiner Fragen vom Zettel sich so in den eigenen Intellekt verliebt gibt, dass es amüsiert. Ein bisschen Fremdscham ist allerdings auch dabei.
Er schreibt: „Die Zeit stellt ihr Erscheinungsbild von heute an nicht auf den Kopf, aber sie entwickelt es weiter. Mit einem veränderten Aufbau der Seiten und vielen neuen Kolumnen wollen Redaktion und Art-Direktion (Gestaltung: Mirko Borsche und Haika Hinze) die Leser vor allem besser durchs Blatt führen. Und auf den Seiten 12 und 13 findet sich etwas ganz Neues: Künftig hat die Zeit jede Woche zwei Meinungsseiten.“
Die zwei Meinungsseiten hatte ich als solche nicht erkannt. Die demonstrativen E-Mail-Adressen auf Seite 2 (heute ausnahmsweise die Seite 4) habe ich mit einem Heben der Augenbraue quittiert. Ich blätterte noch ein wenig in der Zeit herum. Dann sprang mir auch die eine oder andere Linie ins Gesicht. Die gedruckte Zeit wird bald genauso hässlich sein wie Zeit online.