Ende der Achtziger im bürgerlichen Paderborn zur Schule zu gehen, fühlt sich so ähnlich an, wie wenn man unterzuckert ist. Nahe der Ohnmacht, und es kribbelt im ganzen Körper. Ich kaufte mir deshalb am Bahnhofskiosk manchmal die Frankfurter Rundschau und informierte mich über die Beschlüsse hessischer SPD-Bezirksparteitage. Später hatte ich auch den Spiegel für ein Jahr abonniert. Am Bahnhofskiosk gab es Frauenzeitschriften und für Männer die Computerzeitschriften, genau zwischen diesen beiden Abteilungen lagen Tempo und Wiener. Damit an die Kasse zu treten, als Spätpubertierender, so musste es sich anfühlen, Kondome in der Apotheke zu kaufen, was ich mich natürlich nicht getraut habe, also abonnierte ich die Tempo.
Zwanzig Jahre später bereiten die alten Tempomacher eine Jubiläumsausgabe vor. Und alle Welt schreibt darüber, was Tempo damals war: „Es erreichte eine Auflage von über 200.000 Exemplaren und galt nicht nur in zeitgeistbewegten Kreisen als Pflichtlektüre. Mit spektakulären Geschichten und völlig neuer Optik wurde es zum Identifikationsmedium der Generation X.“ (Spiegel Online) Oder: „‚Tempo‘, das war in den 80ern die Zeitschrift einer jungen Generation von Journalisten, Fotografen und Illustratoren, die sich gegen den ihrer Ansicht nach ‚verlogenen Objektivitätsjournalismus‘ einer arroganten Medienkaste auflehnten.“ (Tagesspiegel)
Das habe ich damals alles nicht gewusst. Die sogenannte Generation X beschränkte sich für mich auf ein paar Leute, die eines der sechs Paderborner Gymnasien besuchten und mein Alter plus/minus zwei Jahre hatten. Man traf sich nachmittags auf den Stufen vor dem Rathaus oder am Marienplatz. Als Identifikationsmedium diente einigen die Spex, lediglich in der Ablehnung des örtlichen Blattes, das wir ganz klar als klerikalfaschistisch identifiziert hatten, war man sich einig. Aber die Tempo las außer mir keiner, jedenfalls sprach niemand darüber.
Zeitgeistbewegte Kreise waren das nicht gerade. Wie sollten wir als Minderjährige auch wissen, was Zeitgeist ist, wir kannten keine andere Zeit – außer aus Erzählungen. Eine noch größere Strafe, als in den Achtzigern im bürgerlichen Paderborn zu leben, war, sich in den Achtzigern von Altachtundsechzigern erzählen zu lassen, wie gut die alten Zeiten waren, „damals vor zwanzig Jahren“, als man noch für Willy Brandt in den Wahlkampf zog und die Zeitung am Sonntag im Kinderwagen ausfuhr. Für diese Strafe musste man nicht einmal in Paderborn leben. Dieses Licht (die Strafe) ging mir aber erst später auf.
Zwanzig Jahre ist es nun auch her, dass Tempo gegründet wurde. Und ich frage mich, wie die Jubiläumsausgabe aussehen wird. Der ehemalige und neue Chefredakteur Markus Peichl sagt dazu etwas, das sich kaum angreifen lässt. Anscheinend sind die alten Schergen wieder mit dabei und auch junge Autoren, die für Tempo schreiben würden, wenn es denn die Tempo noch gäbe (aber bitte nicht den Stuckrad-Barre oder die Kuttner).
Hunter S. Thompson wird jedenfalls nicht mehr dabei sein. Dummerweise hat er sich vor kurzem erst das Hirn aus dem Schädel geblasen. Maxim Biller und Peter Glaser habe ich in den letzten Jahren nur sporadisch gelesen, aber irgendwie habe ich im Urin, dass zumindest der Biller den Altachtundsechziger geben wird. Davor habe ich am meisten Angst, vor dem kollektiven Eierkraulen alter Männer. Und zwischendrin hüpft die Kuttner und findet alles spitze. Und Stuckrad-Barre drückt sich eine Träne ab, weil er damals auch gerne dabei gewesen wäre. Bloß nicht.